Meine Geschichte


In den ersten zwei drei Schuljahren war Juliane Freitag meine beste Freundin. Sie kam zwar mit dem Unterrichtsstoff nicht hinterher, aber ich mochte sie. Günstiger Weise wohnte sie auch gleich um die Ecke. So verbrachten wir auch unsere schulfreie Zeit gemeinsam. Meistens spielten wir Lehrerin und Schülerin. Ich war natürlich die Lehrerin, Juliane die Schülerin. Was hätte sie mir schon beibringen können?

Heute habe ich vier Kinder. Darunter ist auch eine „Juliane“. Sie lernt viel langsamer als andere Kinder. Sie spielt begeistert Lehrerin und ich käme nie auf die Idee, ihr zu sagen, sie könnte mir nichts beibringen. Im Gegenteil: Sie ist meine größte Lehrmeisterin. Das meiste, was ich in den letzten zehn Jahren gelernt habe, hat sie mich gelehrt und dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Ohne meine „Juliane“ wäre ich heute nicht das was ich jetzt bin – mit Leib und Seele LERNTHERAPEUTIN.

Als unsere Tochter neun Jahre alt war, bat mich die Schule sie psychologisch testen zu lassen. Entlassen wurden wir mit der Diagnose Legasthenie, Dyskalkulie, AD(H)S und der Empfehlung, Ritalin zu geben sowie ein Förderzentrum aufzusuchen.

Bereits im Kindergarten wurde uns gesagt, unsere Tochter sei irgendwie anders und würde nie eine normale Schule besuchen können. Klar, sie hatte Epilepsie und bei ihr dauerte vieles länger. Sie probierte alles erst dann aus, wenn sie sicher war, dass es ihr gelingen würde. Das war beim Krabbeln lernen so, beim Gehen lernen, beim Sprechen, beim Malen…

Aber nicht „normal“? Für mich war dieses Gespräch ein traumatisches Erlebnis. Mein Kind wurde abgestempelt. Es ging nicht darum, eine Lösung zu finden, sondern darum, mir zu sagen, mit meinem Kind stimme etwas nicht und ich müsste etwas tun.

Wir begannen mit Physiotherapie und Ergotherapie. Zusätzlich suchten wir alternative Hilfe. Unsere Homöopathin, eine Kinesiologin und eine Osteopathin wurden unsere großen Stützen. Mit ihrer Hilfe lernten wir zu artikulieren, was tief in uns ganz klar war: Unsere Tochter ist genauso wie sie ist richtig!

Ganz unrecht hatten die Kita-Erzieherinnen dennoch nicht: Jedes unserer vier Kinder ist anders. Anders als jedes andere Kind. Und sie besuchen alle keine „normale“ Schule.

Unseren ältesten Sohn hatten wir zunächst in einer staatlichen Schule eingeschult. Bereits nach der ersten Schulwoche zeichnete sich ab, dass er nicht so leicht Lesen und Schreiben lernen würde, wie es erwartet wurde und wir es uns gewünscht hätten. Er wurde auf Lese-Rechtschreib-Schwäche getestet, machte aber nicht die typischen Fehler und bekam somit keine Förderung. Im zweiten Schuljahr klagte er allmorgendlich über Bauch-und Kopfschmerzen und hatte Angst vor Diktaten und dem täglichen Mathetest.

Er saß am Bummelzugtisch mit dem Rücken zur Tafel und hin und wieder auch auf der Strafbank. Uns war klar, wenn wir unsere Tochter an dieser Schule einschulen würden, wäre sie nach einer Woche an der Sonderschule. Unsere Rettung wurde eine Montessori-Schule, die ganz in der Nähe pünktlich zum Schulstart meiner Tochter eröffnen sollte. Ich hatte keine Ahnung von Montessori, und von tollem Material ließ ich mich nicht ködern. Es war ein Satz der mich überzeugte: Jedes Kind hat sein eigenes Tempo, und danach richten wir uns. Wir schulten unseren Sohn um und unsere Tochter dort ein. Unsere beiden Jüngsten meldeten wir mit ihrer Geburt an dieser tollen Schule an. Hier geht es darum, die Kinder glücklich zu machen und somit stark für das Leben. Und nebenbei lernen sie so unglaublich gern und leicht. Für unsere Kinder ist es genau die richtige Schule. Um die psychologische Testung bat uns die Schulleitung, um die zusätzliche Förderung, die unsere Tochter erhält, zu rechtfertigen. Ritalin wollten wir ihr auf keinen Fall geben. Schon deshalb nicht, weil uns das Risiko, die Anfälle damit zu provozieren, zu hoch war. Auch von der Idee, sie auf ein Förderzentrum zu schicken, waren wir nicht begeistert. Wir mochten unsere Tochter nach der Schule nicht noch irgendwo zum Lernen hinschicken. Sie war ein Kind und sollte irgendwann Feierabend haben.
Außerdem stand sie mit beiden Beinen so fest im Leben, dass ich mir um ihre Zukunft keine Sorge machte.

Dann hörte ich von Matthias Gradenwitz, einem Lerntherapeuten, der der Tochter einer Freundin binnen einer Woche Rechnen beigebracht hatte. Fünf mal vier Stunden hatte er mit dem Mädchen gearbeitet, danach war sie in Mathe zwei Noten besser. Dauerhaft.

Wir hörten uns die Vorträge auf seiner Homepage an und wussten: Das ist unser Mann.

Eine Woche arbeitete er mit unserer Tochter UND UNS! Endlich verstanden wir, wie tiefgreifend anders ihre Sicht auf viele Dinge war und wo sie so anders dachte, dass es hakte, und wie wir sie besser begleiten konnten. Plötzlich war das Leben, der Umgang mit ihr so viel leichter. Auch die Schule merkte rasch, dass sich etwas änderte. Mal kam es zaghaft und schleichend, mal als wahre Explosion.

Ich spreche gerne von Knoten im Kopf, die es zu lösen gilt. Manchmal sind es ganz kleine, leicht lösbare Knoten (bei 80 Prozent der Kinder), manchmal aber auch eine ganze Reihe fest verschlungener. Wir arbeiten inzwischen seit drei Jahren mit Matthias Gradenwitz, mal in kleineren, mal in größeren Abständen. Im Sommer entwirrten wir ein wahres Knäuel von Knoten – die Folge war ein wahrer Rechenwahn. Nicht nur bei unserer Tochter. Auch wir Eltern lernten, das Lernen Spaß machen kann. Das war nicht unbedingt das, was uns in der Schule vermittelt worden war. Ja, wir entdeckten, dass wir immer noch lernen wollen. Die Binomischen Formeln, die Logarithmen und wofür die eigentlich da sind…
In mir wuchs der Wunsch zu lernen, wie ich selber Knoten lösen kann. Nur so für mich und meine Familie. Ich sah uns sechs, wie sehr wir, allein im Umgang miteinander, im Verständnis füreinander, davon profitieren würden. Als ich mich dann wirklich vertiefte, erkannte ich: Das ist meins. Ich möchte als Lerntherapeutin arbeiten.

Ich bin ein Fallschirmspringer, der immer da abgeworfen wird, wo es Probleme mit der Schule gibt.

Als Siebenjährige wollte ich Lehrerin werden. Lehrerin für einfache Kinder. Kinder, die nicht viel fragten, die machten, was ich sagte, so stellte ich mir das vor.

Heute arbeite ich mit sehr aufgeweckten, sehr unruhigen, sehr wissbegierigen, sehr vorlauten, sehr in sich gekehrten, sehr explosiven, hoch- und tiefbegabten Kindern zusammen.
Meine größte Herausforderung sehe ich darin, ihre Sehnsucht zum Tun zu wecken.

Denn ich habe festgestellt: Alle Kinder wollen lernen.